Frankfurt am Main/Berlin, 09. November 2023

 

Offener Brief

an den Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir

die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Steffi Lemke

und die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger

 

Innovative Technologien als Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit:
Für eine evidenzbasierte Reform des europäischen Gentechnikrechts

 

 

Sehr geehrte Frau Lemke,

sehr geehrte Frau Stark-Watzinger,

sehr geehrter Herr Özdemir,

 

jedwede Gesetzgebung sollte mit wissenschaftlichen und technischen Innovationen Schritt halten, damit diese für Mensch, Tier und Umwelt von Nutzen sein können. Dies gilt umso mehr, wenn globale Herausforderungen, wie beispielsweise Bevölkerungswachstum und der schnell fortschreitende Klimawandel, ein dringendes und effektives Handeln erfordern. Dann ist ein „weiter wie bisher“ keine Option. Vielmehr müssen wir alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wertfrei sondieren und in der jeweils besten Kombination nutzen – und dies möglichst schnell, denn die Zeit ist eine schon viel zu lange unterschätzte Gegnerin.

Die EU-Kommission hat die Handlungsnotwendigkeit erkannt und in verschiedenen Politikbereichen Maßnahmen auf den Weg gebracht, die nachhaltige und effiziente Herangehensweisen fördern. Beispiel Landnutzung: Die ambitionierten Ziele des European Green Deal mit der Farm to Fork Strategie fordern bis 2030 eine Reduktion des Einsatzes und eine Senkung des Risikos durch Pflanzenschutzmittel um 50 %, eine Verminderung von Nährstoffverlusten um 50% und des Düngereinsatzes um 25 %. Als Wissenschaftler / -innen sind wir überzeugt, dass diese anspruchsvollen Ziele allein durch die – ebenfalls beschlossene-Ausweitung der biologisch bewirtschafteten Fläche auf 25 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche kaum zu erreichen sein wird. Gerade auf den konventionell genutzten Flächen bedarf es neben angepasster Bewirtschaftungsformen vor allem auch neuer, in Hinblick auf Stresstoleranz, Nährstoffe etc. angepasster Pflanzen. Diese in angemessen kurzer Zeit zur Verfügung zu stellen, wird aber ohne den Einsatz moderner Züchtungstechniken nicht möglich sein. Deren sinnvollem Einsatz stellt das geltende, noch aus dem Jahr 2001 stammende, EU-Gentechnikrecht aber nahezu unüberwindliche Hürden entgegen.

Neue genomische Techniken: Der Vorschlag der EU-Kommission

Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission im Sommer den auch von vielen Wissenschaftler / -innen lange erwarteten „Vorschlag für eine evidenzbasierte Regulierung von Pflanzen, die mithilfe neuer genomischer Techniken (NGT) gezüchtet wurden“, vorgelegt. Diese Reformvorschläge waren überfällig, weil die mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte alte Gentechnikgesetzgebung dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik in keiner Weise mehr gerecht wird und dringend notwendige innovative Entwicklungen blockiert.

Der internationale Vergleich zeigt darüber hinaus, dass man in vielen anderen Ländern längst einem evidenzbasierten Ansatz folgt und Pflanzen nicht nach Art ihrer Erzeugung, sondern nach ihren Eigenschaften reguliert.

 

Die Unterzeichner/-innen des offenen Briefes zum Vorschlag der EU-Kommission

Forschende aus ganz Europa – Expertenkommissionen, Akademien, Fachverbände und wissenschaftliche Institutionen – hatten bereits in der Vergangenheit immer wieder für eine Änderung der Gentechnikrichtlinie plädiert und das Potenzial der NGT für eine nachhaltigere Landwirtschaft betont. Denn es gibt in der Tat keine wissenschaftlichen Gründe, identische Veränderungen im Genom abhängig von der Methode der Erzeugung zu machen und völlig unterschiedlich zu regulieren. Welche Risiken und Vorteile von den mit NGT gezüchteten Pflanzen ausgehen können, hängt schließlich nicht von der Züchtungsmethode, sondern von ihren letztendlichen Eigenschaften ab.

Auch aus Sicht der Unterzeichner/-innen dieses offenen Briefes ist es wichtig und richtig, Chancen und mögliche Risiken mit Bedacht abzuwägen und faktenbasiert in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Genau dies hat die EU-Kommission mit dem vorliegenden Vorschlag getan. So besteht nun die Chance, die neuen genomischen Techniken verantwortungsvoll zu nutzen, um mit ihrer Hilfe den großen zukünftigen Herausforderungen zu begegnen.

Weltweit arbeiten Forschende an neuen Einsatzmöglichkeiten, um Pflanzen besser an sich ändernde Umwelt- und Klimabedingungen anzupassen. So knüpft der Gesetzesentwurf die Regulierung sinnvollerweise an nachhaltige Eigenschaften, beispielsweise wenn mithilfe von NGT-Methoden Pflanzen mit höherer Toleranz oder Resistenz gegenüber Krankheiten und Schädlingen (biotische Schadfaktoren) generiert werden. Gleiches gilt auch in Hinblick auf höhere Toleranz gegenüber extremen Temperaturen oder Dürren (abiotische Belastungen), auf einem höheren Nährwert oder höhere Erträge.

In diesem Zusammenhang möchten wir explizit Behauptungen entgegentreten, die wissenschaftliche Pipeline sei insgesamt unergiebig: Einen ausführlichen Überblick über alle bisher veröffentlichten Anwendungsbeispiele gibt die Datenbank von EU-SAGE (https://www.eu-sage.eu/genome-search; abgerufen am 15.09.2023). Diese listet aktuell 786 publizierte Studien mit landwirtschaftlich relevanten Anwendungen in 70 unterschiedlichen Kulturpflanzenarten auf. Die Bandbreite dieser Anwendungen umfasst praktisch alle denkbaren Zuchtziele, von Krankheitsresistenzen über Anpassung an klimatischen Stress bis hin zu veränderten Inhaltstoffen der pflanzlichen Produkte.

Um es deutlich auszusprechen: Angesichts der globalen Herausforderungen ist eine pauschale Ablehnung der Anwendung von NGT gänzlich unangemessen. Es wird stattdessen höchste Zeit, dem wissenschaftlichen Kenntnisstand und neuesten Entwicklungen in der Pflanzenzüchtung Rechnung zu tragen, die weltweite Abstimmung der Regularien für NGT in Einklang zu bringen, und damit innovative Anwendung zu ermöglichen.

 

 

Unser Appell an Sie als verantwortliche Politiker/-innen

Der von der EU-Kommission vorgelegte Reformvorschlag stellt eine gelungene Abwägung dar zwischen wissenschaftlichem Kenntnisstand und neuesten Entwicklungen in der Pflanzenzüchtung einerseits und den Interessen des ökologischen Landbaus andererseits. Wie jeder gute Kompromiss erfährt dabei auch dieser Vorschlag Kritik von allen Seiten.

Vor dem skizzierten Hintergrund bitten wir Sie, sich im weiteren europäischen Abstimmungsprozess für die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Regelungen einzusetzen.

 

Die Unterzeichner/-innen stehen Ihnen gerne für weitere Informationen und Gespräche zur Verfügung.

 

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Klaus-Dieter Jany

Prof. Dr. Karl-Josef Dietz

1. Vorsitzender WGG

Wissenschaftskreis Genomik und Gentechnik e.V.

zentrale@wgg-ev.de

 

 

 

 

Präsident VBIO

Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland e. V.

praesident@vbio.de

 

 

Anlage: Liste der Mitzeichner /-innen

 

 

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Anlage: Liste der Mitzeichner /-innen und Fachgesellscvhaften
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Appell an Bundesminister/-innen, sich für evidenzbasiertes europäisches Gentechnikrechts einzusetzen
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